Sei es als Therapeut oder privat in meinem Leben, beobachte ich bei den Menschen einen Konflikt, der hinter und in allen Dingen zu liegen scheint. Die Diskrepanz zwischen Vorstellungswelt und Realität. In einer eher psychologisch-spirituellen Betrachtungsweise würde ich von dem Konflikt zwischen dem ICH (Ego) und dem Leben sprechen.
Das Leben ist wie es ist, also die Realität an sich. Es ist alles und immer, hier und jetzt. Das ICH hingegen hat eine Idee, eine Vorstellung vom Leben, und bewegt sich in dieser Vorstellung meistens in der Vergangenheit und Zukunft, mit seiner eigenen Realität. Wenn die Realität des Lebens sich dann anders gestaltet, kann für den Menschen das Erleben von Konflikt, mit Anspannungen, Nicht-akzeptieren-wollen und oft mit intensiven Gefühlen, wie Ohnmacht, Verzweiflung, Unsicherheit und Hilflosigkeit, entstehen.
Natürlich ist auch das ICH Teil des Lebens, also Teil der Realität. Wenn wir diese Tatsache als ICH begreifen würden, würden wir vermutlich von unseren Vorstellungen leichter loslassen können und es gäbe weniger Konflikt. Da es aber scheinbar für die meisten Menschen diesen Konflikt gibt, schließe ich daraus, dass sich das ICH als etwas der Realität nicht Zugehörigen erfährt. Es scheint der festen Annahme zu sein einer eigenen Realität, bestehend aus Vorstellungen, Wünschen und Urteilen, anzugehören und sehr angestrengt und verbissen an ihr festzuhalten. Und das, scheinbar fast egal wie häufig es dabei durch das Leben an seine Grenzen stößt und eines Besseren belehrt wird.
Egal mit welchem Thema die Menschen zu mir in Therapie kommen oder womit ich mich morgens aufs Meditationskissen setze, scheint es am Ende, im Kern, um diesen Urkonflikt zu gehen. Er hat viele Gesichter und Namen. In der biblischen Erzählung, bzw. in der Interpretation der institutionellen Kirche, spricht man z.B. von Himmel (Gott) und Hölle (Teufel). Dabei ist in meiner Realität die Identifikation mit dem ICH und die daraus erlebte Gefangenschaft in der eigenen begrenzten Vorstellungswelt, Das was das Höllische ausmacht. Oder man kann auch vereinfacht sagen, das Nicht-Akzeptieren-Wollen der Realität. Mit dem Himmel, bzw. Himmelreich, ist dabei denke ich der Geisteszustand gemeint, der einzieht, wenn man ohne Wiederstand den Gegebenheiten des Lebens zustimmt. Also das Leben annimmt wie es ist, mit Kriegen, Vergewaltigung, Unfällen, vermeintlichen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Armut, Krankheit, etc., und innerer Frieden könnte sich entfalten.
Vorstellungen und Wünsche an sich sind dabei eigentlich nicht die Ursache des Konflikts, sondern ein Fehlen der Offenheit dafür, dass das Leben sich anders gestalten kann, als man sich manchmal wünscht. Erst wenn ich fest fixiert auf das bin, was ich mir wünsche und vorstelle, also wie ich in meiner Überzeugung davon ausgehe, wie das Leben ist, oder sein sollte, besteht die Gefahr, dass die darauffolgende Erfahrung höllisch schmerzhaft, oder zumindest schwer zu akzeptieren wird. So erschaffen wir uns die Hölle auf Erden selbst. Der Himmel, womit nicht das Blau mit den weißen Wolken gemeint ist, bzw. das was als Himmelreich bezeichnet wird, ist immer da. Als Leben, als Realität, als Gott, als großer Geist, welches/welcher immer ist und nichts will. Sich auch immer selbst genügt und vollkommen ist. Dem wir auch immer liebevoll willkommen sind. Mit den verschiedenen Färbungen des Lebens, auch den schwer anzunehmenden, wie ich sie vorher schon angeschnitten habe. Es sind lediglich Färbungen. Weder gut noch schlecht. Erst die Beurteilung des ICHs, macht sie in unserer illusionierten Wirklichkeit zu etwas Gutem oder Schlechtem. Wenn wir diese Realität ohne Widerstand annehmen könnten, gäbe es wahrscheinlich keine echten Probleme mehr auf der Welt und das Himmelreich auf Erden würde einziehen. Bzw. würden die Dinge nicht als Probleme erlebt werden und die Konfliktenergie würde sich auflösen.
Das ICH hingegen meint immer etwas zu brauchen um ganz zu sein. Es möchte immer irgendwo hin. Und wenn es das nächste Ziel, in der Hoffnung ganz zu werden und genug zu sein, erreicht hat, merkt Es, dass es immer noch leer ist und noch mehr braucht. Ein Fass ohne Boden, welches niemals voll werden kann und auch nur schwer aufhören kann sich endlos auffüllen zu wollen. Unter anderem daraus resultiert für viele Menschen das Gefühl nicht genug zu sein. Nicht liebenswert genug, nicht lebenswert genug, nicht schlau genug, nicht erfolgreich genug, nicht schön genug, nicht selbstbewusst genug…etc. Ein ständiges Mangelerleben, welches ohne einkehrendes Bewusstsein zu immer mehr Konsum und Ablenkung führt. Das ist natürlich eine vereinfachte Darstellung der Dinge, da noch vielmehr Faktoren zu unserem individuellen Befinden und Erleben unserer eigenen Realitäten führt.
Ich denke auf diese Weise kann man sich aber viele Verhaltensweisen der Menschheit erklären. Um das allerdings wirklich greif- und erlebbar zu bekommen und ein differenziertes Verständnis darüber entwickeln zu können, muss man sich in Form von Selbsterfahrung intensiv mit sich selbst beschäftigen, um überhaupt ein Gefühl zum ICH entwickeln zu können. Sonst hat man keine Chance sich aus der Identifikation zu lösen und geht weiter von seiner eigenen, eingeschränkten Wahrnehmung, der irrtümlich angenommenen, einen Realität aus. Denn die Identifikation vieler Menschen mit der scheinbaren Realität des ICHs ist so dramatisch stark ausgeprägt, dass sie sich nicht einmal dessen bewusst sind. Nun, wie sollen sie das auch sein? Die wirtschafts- und konsumorientierte Gesellschaftsstruktur ist schließlich großenteils aus der Haltung des ICHs aufgebaut und festigt damit noch die ICH-Struktur eines jeden Einzelnen. Z.B. wird vermittelt ein/e erfolgreiche/r Arbeiter/in sein zu müssen, um gewisse Anerkennung zu bekommen, die einem mehr Glück und Zufriedenheit schenken soll. Ein/e Arbeiter/in der/die genug leistet, um genug zu sein. Denn wenn du das nicht leistest, meint dir evtl. aufzufallen, dass in deinem Leben etwas zu fehlen scheint, während du deinen Nachbarn in seinen Audi steigen siehst.
Für alle Audi Fahrer, die sich jetzt angegriffen fühlen, möchte ich „beruhigend“ hinzufügen, dass nicht das Audi fahren an sich das Problem ist, sondern die begrenzte Bewusstheit darüber wie es zum Audi fahren gekommen ist. Und vor allem welches Gefäß es evtl. füllen soll. Ob das für einen nun beruhigend ist oder nicht kann jeder für sich im Körper nachspüren. Spätestens wenn du jetzt Ärger oder Empörung wahrnehmen solltest, ist zu vermuten, dass sich genau dein ICH jetzt in seiner „Realität“ angegriffen fühlt. Ich möchte hierbei nicht pauschalisieren, sondern Denk- und Fühlanstöße geben.
Aber wie schon unsere Vorfahren seit Jahrtausenden in ihren Büchern niederschrieben, gibt es eine Möglichkeit aus dieser konstruierten Selbstgefangenschaft auszusteigen, wenn man das denn möchte. Bzw. sich ihrer bewusst zu werden und somit die Identifikation zu lockern. Es geht also in meinen Augen nicht um die Abschaffung des ICHs und des Audis, oder wie viele es als Sterben des ICHs beschreiben. Das ICH hat schon sehr sinnvolle Eigenschaften, die allerdings meistens nur ihre Sinnhaftigkeit zum Ausdruck bringen können, wenn man sich dem Ausmaß der Identifikation mit allen lebens- und realitätsverneinenden Folgen bewusst wird.
Es braucht also Bewusstsein. Überall wo Bewusstsein einströmen kann, werden die Dinge real und weniger ICH-konstruiert. Man taucht tiefer ins Leben ein und kann gleichzeitig objektiver auf die Dinge schauen. Man ist also näher dran und hat dabei den nötigen Abstand, um nicht zu stark von Identifikationen gesteuert zu sein.
Und wie kann ich unterstützen, dass mehr Bewusstsein in mein Leben einkehrt, also ICH bewusster werde/wird? 😊 Grob unterteilt lernen wir auf zwei verschiedene Art und Weisen. Die eine ist kognitiv, also auf Verstandesebene, mit Logik und Messbarkeit der Dinge, bei der wir beispielsweise etwas Lesen oder erklärt bekommen. Die andere ist das Lernen durch Erfahrung, bei der wir am zu Lernenden teilnehmen, alle dabei stattfindenden Eindrücke (Gefühle, Stimmungen, Körperempfindungen, Gedanken, Informationen über die Sinne, energetisches, etc.) mit Leib und Seele durchleben. Wir sammeln dabei eine Erfahrung, die mit Worten nur begrenzt beschreibbar ist, da ein Teil des Wesens des Wortes leider die Begrenztheit ist. Wir sammeln dabei also viel mehr lebenswichtige Informationen als beim Lernen auf Verstandeseben. Erst wenn ich etwas wirklich durchlebt habe, also nicht nur drüber gelesen habe, kann ich sagen wie es für mich wirklich ist und ein erweitertes Verständnis dazu entwickeln.
Was ich damit sagen möchte ist, dass wir Erfahrungsräume brauchen, um uns und das Leben in der Tiefe kennenzulernen und Bewusstheit einziehen zu lassen. Alles andere ist nur eine Idee, eine Vorstellung und oft leeres Gerede ohne Lebendigkeit.
Dabei möchte ich noch hinzufügen, dass es natürlich viele Schriften und Lehrer auf dieser Welt gibt, die das richtig gewählte Wort mit einem Zauber von Erfahrungsenergie verströmen lassen können. Das ist eine hohe Kunst, die aber in meinen Augen nicht an die Kraft der eigens gemachten Erfahrung heranreicht. Und diesen Zauber erlangen die Worte auch nur, weil die dementsprechenden Personen zu ihnen zuvor selbst eine tief-bewegende Erfahrung gesammelt haben. Sie lassen also im Wort einen Aspekt ihrer Erfahrung mitschwingen und den Leser und Zuhörer dran teilhaben.
Wie betrete ich einen Erfahrungsraum? Das Wesen eines jeden Erfahrungsraumes ist, dass die Dinge erlebt (durchlebt) werden. Also lebendig beschritten. In all diesen Worten steckt das Wort „Leben“ drin. Und was macht das Leben in der menschlichen Erfahrung so lebendig? U.a. Empfindungen, Gefühle und Bewegung. Ich schlage also vor sich regelmäßig hinzusetzen, um sich bewusst zu fühlen/spüren/wahrzunehmen und mit sich in Bewegung zu bleiben. Auch während du dich bewegst darfst du dich natürlich fühlen. 😉 Warum das Wahrnehmen die tragende Rolle bei all dem spielt beschreibe ich im Detail in meinem Blogbeitrag „Die Wahrnehmung“.
Ich möchte mit meinen Worten nicht den Eindruck entstehen lassen, dass ich von dieser Identifikation mit dem ICH und dem damit einhergehenden Konflikt, unbetroffen sei. Ich werde mir sogar von Tag zu Tag bewusster wie unbewusst ich eigentlich wirklich bin. Ich sammele seit unbestimmter Zeit mehr und mehr die Erfahrung wie ausgeprägt und lebensbeeinflussend diese Identifikation mit dem ICH, und die Illusion davon wie das Leben zu sein scheint, ist.
Ich wünsche viel Spaß, Mut, Lebendigkeit und den unaufhörlichen Willen dran zu bleiben sich und das Leben kennenzulernen. Tag ein, Tag aus rennt das Leben an uns blinden ICHs vorbei ohne gefühlt, also erfahren zu werden, in dem stetigen Irrglauben in der Tiefe durchdacht werden zu können. Wieviel Lebenszeit doch schon vergangen ist ohne sie wirklich erlebt zu haben…