Viele Menschen denken bei Abhängigkeiten zuerst an Zigaretten, Drogen, Kaffee, Zucker oder Ähnliches. Ich möchte im folgenden Text einen erweiterten Blick und ein tieferes Verständnis auf das Thema anbieten.
Meiner Erfahrung nach können sich Abhängigkeiten in weit mehr Bereichen des Lebens zeigen als im weitläufigen Feld der Substanzen. Das ist grundsätzlich, vor allem für die, die im Bereich der Therapie tätig sind, erstmal nichts Neues. Man kann ebenso abhängig von seinem Smartphone, der Arbeit, seinem/r Partner/in, oder übermäßigem Training im Fitnessstudio sein. Abhängigkeiten sind demzufolge nicht substanzgebunden, sondern können auch Personen, Situationen und Verhaltensweisen betreffen.
Was, denke ich, fast jeder zu diesem Thema bestätigen kann, ist, dass es einem sehr schwer fallen kann Abhängigkeiten aufzugeben. Und oft ist es dann so, dass die Abhängigkeit nicht wirklich aufgegeben wird, sondern sich nur auf einen anderen Lebensbereich verlagert. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das, des frischen Nicht-Rauchers, der zu Essattacken, insbesondere von zuckerreichen „Nahrungsmitteln“, neigt. Ich schließe daraus, dass sich Abhängigkeiten in verschiedensten Ausdrucksformen und Lebensbereichen zeigen können, aber im Kern ein und dasselbe bleiben. Beim einen drücken sie sich so aus, und beim anderen ebenso. Wenn man also seine Abhängigkeiten loswerden möchte, reichen ein Nikotinpflaster oder eine Diät demzufolge leider nicht aus.
Da meiner Erfahrung nach die meisten Dinge des Lebens einen Sinn, Nutzen oder eine Bedeutung haben, möchte ich die Abhängigkeit auch in diesem Zusammenhang etwas genauer beleuchten. Den Sinn und Nutzen von Abhängigkeiten besser zu verstehen, ist meiner Meinung nach ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Dazu ist es erstmal hilfreich zu verstehen was es bedeutet abhängig zu sein. Allein wenn man von der Wortbedeutung ausgeht, hieße das doch, dass es einem in gewissem Rahmen schwer fällt unabhängig zu sein. Aber warum fällt einem das schwer? Unabhängigkeit ist doch für die meisten Menschen etwas sehr Wünschenswertes. Oder vielleicht doch nicht?
Wenn man das Thema von dieser Seite betrachtet – Abhängigkeit bedeutet also auch, nicht unabhängig sein zu können – kommt man dem Kern der Sache schon ein Stück näher. Unabhängig sein geht nämlich in der Regel mit einem größeren Grad an Verantwortung einher. Wenn ich unabhängig sein möchte, muss ich für meine Entscheidungen, mein Handeln und im Umgang mit meinen Gefühlen mehr Verantwortung übernehmen. Das verlangt Mut, Disziplin, die Bereitschaft sich dem Unbekannten zu öffnen und evtl. Fehler zu machen.
Ich möchte dazu erklärend ein Beispiel nutzen, welches sich vor allem mit den emotionalen Aspekten dieser Annahmen beschäftigt: Ich komme mit einer anderen Person in eine Situation, z.B. eine Meinungsverschiedenheit, in der starke Gefühle ausgelöst werden. Nehmen wir als Beispiel die Emotion Wut. Mein Gegenüber sagt etwas, was mich wütend macht. So formulieren wir es zumindest in unserer Alltagssprache – „jemand anderes macht mich wütend“. Aber ist das wirklich so? Das ist doch eigentlich meine Wut, die in mir stattfindet. Also kann es doch auch nur sein, dass ich diese Wut bin, bzw. die Wut ein Teil von mir ist, und nicht mein Gegenüber sie auf magische Art und Weise macht. Das würde ja sonst bedeuten, dass jemand oder etwas die Macht besäße mir Wut zu injizieren.
Meiner Meinung nach ist es so …die Wut, die in der oben beschriebenen Situation fühlbar wird ist bereits in mir. Sie wird durch das Gesagte nur geweckt. Es ist also schon vor der Situation meine Wut da, die in mir schlummert und die durch die Meinungsverschiedenheit aktiviert wird. Es ist meiner Erfahrung nach nicht möglich, dass jemand anderes Wut in mein System bringt, wie eine Entität, mit der ich mich dann rumschlagen muss. Und das betrifft meines Erachtens nach jedes Gefühl.
Der ein oder andere mag sich jetzt fragen: „Aber woher kommt dann diese Wut?“. Das ist eine passende Frage, die einen ein Stück weiter bringt in Richtung Unabhängigkeit. Aber dazu gleich…
Wenn wir von dem oben Beschriebenen ausgehen, dass die Wut bereits Teil von mir ist, bedeutet das also, dass ich meinem Gegenüber nicht die Verantwortung, oder im schlimmsten Fall sogar die Schuld dafür geben kann, dass ich mich jetzt so fühle. Derjenige kann ja nichts dafür, dass da schon Wut in mir ist. Er kann vielleicht was für seine Art der Kommunikation, z.B. wenn sie respektlos ist, und darauf kann ich ihn/sie hinweisen. Aber dass ich Wut empfinde, und wie ich mit ihr umgehe, ist nicht seine/ihre Verantwortung. Wer bleibt dann also noch übrig die Verantwortung für das Gefühlte zu übernehmen?
Also nochmal, mein Gegenüber weckt meine Wut, ich komme dadurch mit meiner Wut in Kontakt, und erlange somit auch die Möglichkeit meine Wut besser kennenzulernen. Wo spüre ich sie im Körper? Was hat sie für eine Qualität? Wo kommt sie eigentlich her, was verbirgt sich hinter ihr? Meistens versteckt sich hinter ihr meiner Erfahrung nach ein schwerer erträgliches Gefühl, wie Trauer oder Verletzlichkeit.
Kehren wir an der Stelle wieder zur Frage zurück „Woher kommt diese Wut?“. Dazu ist es hilfreich die Wut etwas besser kennenzulernen. Wut kann sich zwar anstrengend und aufreibend anfühlen, vielleicht sogar verunsichernd und gefährlich, aber sie ist auch energetisch, macht- und kraftvoll. Sie kann einem das Gefühl geben sich trotz allem stark und selbstermächtigt zu fühlen. Und darin liegt der Schlüssel. Diese kraftvollen Begleiter in der Wut sind leichter zu fühlen und zuzulassen als die Trauer und Verletzlichkeit. Diese gehen nämlich eher mit Empfindungen von Verletzbarkeit, einem Gefühl des Zerbrechlich-Seins, Hilfsbedürftigkeit, etc. und für viele auch mit Schwäche einher. Wer möchte sich schon verletzlich und klein fühlen, da wird man doch lieber wütend und bleibt „stark“. Das ist für das ICH deutlich besser zu ertragen. Die Wut wäre in diesem Falle also sowas wie ein besser erträgliches Ersatzgefühl.
Zudem ist jede Abhängigkeit ein gut funktionierendes, stabiles System. Wir kennen sie gut und sie ist uns vertraut. Sie schenkt einem also so etwas wie Sicherheit und Verlässlichkeit. Natürlich nur an der Oberfläche, aber immerhin. Zusätzlich wohnt diesem gut funktionierenden System noch eine regulierende Funktion inne. Solange ich abhängig bin, brauche ich dem herausfordernden Thema mit den dazugehörigen starken Gefühlen dahinter nur bedingt begegnen. Ich reguliere also mit der Abhängigkeit meinen Gefühlshaushalt.
Was also in unserer wutauslösenden Situation wirklich interessant und hilfreich für alle Beteiligten ist, ist so gut wie es eben geht bei sich zu bleiben, zu sich zu schauen, bzw. zu fühlen, über die Wut in einen tieferen Kontakt mit sich zu kommen, und herauszufinden, was eigentlich wirklich gefühlt werden möchte. Dem Gegenüber mitzuteilen, dass das Gesagte in einem Wut auslöst, kann natürlich auch hilfreich sein um Streit zu vermeiden und die Grundlage für Bindung zu schaffen. Auf diesem Wege hat man meines Erachtens nach, die besten Chancen herauszufinden, welches ursprünglich Thema, mit den hinter der Wut liegenden Gefühlen zusammenhängt.
Wenn man es schafft so mit sich selbst und seinem Gegenüber umzugehen, könnte man dem- oder derjenigen sogar gewissermaßen „dankbar“ für das Gesagte sein, da es einem die Möglichkeit gibt sich selbst tiefer zu begegnen, Verantwortung für das innere Erleben zu übernehmen, und jetzt bitte aufgepasst, sich unabhängig von der Situation und dem Gesagten zu machen. Unabhängigkeit geht also direkt mit Selbstverantwortung einher, was nicht bedeutet, dass es nicht nützlich sein kann seine Wut auszudrücken. Die Frage dabei ist allerdings, ob man dabei bei sich bleiben kann. Z.B. mit dem Satz: „Verdammt, bin ich wütend!“ und wenn man es braucht auch mit Stampfen und Schnaufen.
Mein Schlussfazit ist also: Wenn ich in irgendeinem Lebensbereich eine Abhängigkeit erfahre und ich unabhängiger sein möchte, lohnt es sich nach innen zu schauen und zu fühlen was passiert, wenn ich mich von dieser Abhängigkeit (Substanz, Person, Situation) distanziere. In der Regel tauchen herausfordernde Gefühle auf, die einem einen ersten Hinweis geben worum es dabei eigentlich geht. Sich dabei die Frage zu stellen, welchen Nutzen die Abhängigkeit für einen hat, ist meines Erachtens ebenso nützlich.